The Odyssey …

Wenn man unsere Patchworkfamilie korrekt zusammenzählt, sind wir zwei Elternteile, vier Kinder (plus drei Lebensgefährten), zwei Katzen und ein Hund. Unsere tatsächliche Hausgemeinschaft beschränkt sich allerdings in aller Regel auf uns zwei Elternteile, ein bis zwei Kinder und zwei Katzen. Dazu kommt eine Helga. Helga hat sich bei uns eingeschlichen und sich im Laufe der Jahre als Familienmitglied und Lebensberater etabliert. Helga ist unser Mondkalender …

Angefangen hat alles in Berlin – meine liebe Freundin dort bekam jährlich zu Weihnachten von ihrer Mutter einen Mondkalender geschenkt. In so einem Kalender steht, wann man sich am besten die Zähne ziehen lässt, wann man die Blumen gießt und wann Flirten am erfolgsversprechendsten eingesetzt werden kann … Dazu kommen tägliche Zitate oder Aphorismen (deswegen hab ich mich wahrscheinlich in den Kliniken Schmieder so wohl gefühlt – die Aphorismen erinnerten mich an unser papiernes Familienmitglied). Mir hat das gefallen – so ein Mondkalender ist ein bisschen wie ein ganzjähriger Adventskalender: jeden Tag eine Überraschung.

Ich zog also los, und ich fand Helga.

Ich fand sie besser gestaltet als das Berliner Modell und inhaltlich im Prinzip genauso tauglich. Denn im Endeffekt ist es so: Helga hat vielleicht zu 50% recht. Und ihre Ratschläge lassen sich ebenfalls nur teilweise umsetzen. Heute zum Beispiel möchte sie, dass wir uns ausruhen. Das wäre mir auch am liebsten, und ich gönne es jedem, der den Sonntag mit Entspannung verbringen kann. Ich jedoch musste und muss heute einige Dinge nacharbeiten, die wegen unplanmäßiger Termine liegenblieben. Schwierig, denn der Tag ist wie befürchtet einer aus einer Abfolge schlechter Tage. Bleibt wie immer der Versuch, das Beste daraus zu machen …

Gestern gelang das hervorragend: Nach einem Vormittag Arbeit gab es eine wunderschöne Ausfahrt mit Freunden zum Japaner in Baden-Baden und dann weiter nach Karlsruhe zu einem Konzert von Rymden … köstliches Essen, abgefahrene, erhebende Musik, tiefe Gespräche mit liebsten, wohlgesonnenen Freunden (danke, C&C) … Auf unserer kleinen Reise schweiften meine Gedanken ab zu Ausfahrten, die wir noch vor Diagnose und Medikamenten gemacht hatten. Ich fragte mich, ob es besser ist zu wissen, warum ich nicht länger als eine Dreiviertelstunde auf dem Beifahrersitz sitzen kann und warum ich unruhig auf dem Konzertstuhl rumrutsche. Oder macht es womöglich gar keinen Unterschied? Ich erinnerte mich, wie ich vor vielleicht zwei Jahren meinem Liebsten versucht habe zu erklären, wie mein Körper, wie mein Schmerz sich anfühlt:

»Auf meiner rechten Hüfte sitzt ein Riesenkrake, der seine Arme von meinem rechten Fuß zu meiner rechten Kopfhälfte ausbreitet … mit zweien seiner Arme umschlingt er meine Hüfte … er saugt sich fest und zieht sich mit aller Kraft zusammen.«

Viereinhalb Jahre dauerte meine Odyssee von den ersten deutlichen Symptomen bis zur Diagnose meiner Erkrankung. In dieser Zeit habe ich darum gerungen herauszufinden, was es ist, das da so gemein und unberechenbar meinen Körper quält und meine Seele verunsichert. Und mir wird klar: Es macht sehr wohl einen Unterschied zu wissen, wer mein Gegner ist und wie seine Gehilfen heißen. Denn nur so kann es zielgerichtete Therapien und Medikamente für mich geben, die mir erlauben, Tage wie gestern zu genießen.

Mein Riesenkrake heißt übrigens Rigor, und er kommt und geht, wie es ihm genehm ist. Helga ist ihm dabei egal.

Die Musik heute:

The Odyssey | Rymden

Drei der brillantesten skandinavischen Jazzmusiker in einer Supergroup … »Rymden« ist schwedisch und bedeutet Raum. Den geb ich diesen Herren von Herzen gerne.