Free your mind …

Vor mir wiegt sich ein Mann in den Halbschlaf, die Biografie über Winston Churchill bildet ein Dach über seiner Wohlstandstaille, eine Lage Bademantelfrottee schafft die Distanz zwischen Dösendem und Herrschendem. Unsere Schaukelbetten sind angeordnet wie Wagons eines schlurfenden ICEs – ohne Bistro und ohne Handyzone, dafür mit Blick auf das Haupt des jeweiligen Gedankenbeförderers, der sich vor den eigenen Schlafwagen eingereiht hat. Ich blicke auf relativ viel Haut, gemessen daran, dass dies anatomisch die Position für das menschliche Haupthaar sein mag. Seine Begleiterin folgt auf dem nächsten hin- und herschaukelnden fliegenden Teppich – sie fährt entgegen der Fahrtrichtung, was mir ermöglicht, den Titel des Magazins zu erhaschen, das sie in ihren Händen hält … Altersweitsicht ist ab und an ein Segen. Sie blättert nicht, sie liest. Während ich eine Einrichtungszeitschrift durchstöbere, nutzt sie die Wellnessschaukel für einen zunächst inneren Diskurs mit den Autoren eines philosophischen Hefts.

Before you can read me
You got to learn how to see me

Überhaupt erleben wir dieses Wochenende sehr viel Intellekt, mein Sohn und ich, das haben wir uns ausgesucht. Kein geringerer als der kluge Heinz Rudolf Kunze regt uns – die Minimalsteinheit unserer inzwischen umfangreich gewachsenen Familie – dazu an, über Gendern, Feminismus und Kacknazis laut nachzudenken. Nach einem sehr intimen Konzert zerbrechen wir uns bei einem möglichst starken Drink sozusagen die Köpfe anderer Menschen. Stellvertretend, weil bei dem ein oder anderen im Oberstübchen ganz offensichtlich nichts mehr zu holen ist.

Oh, now attitude
Why even bother?

Wir sind privilegiert, das wissen wir. Wir fühlen uns geborgen in dieser Fachwerkhöhle, die wir für zwei Nächte bewohnen; an einem Ort, der so unbekümmert wirkt wie eine Doppelseite aus Richard Scarry’s »… allerschönstes Buch vom Backen, Bauen und Flugzeugfliegen«. Friedvoll und geschäftig, und die Häuser sind genau so beschriftet, wie sich das für ein Bilderbuch gehört: »Indisches Restaurant« oder »Laden«. Die Idiotie der Welt scheint hier nicht zu existieren, und doch bahnt sie sich den Weg durch unsere kleinen Designer-Flimmerkästen, mit denen man früher noch telefoniert hat, die derzeit aber vor allem dazu dienen, Müll zu verbreiten und Müll aufzunehmen.

I can’t change your mind
You can’t change my colour

Trinkend versuchen wir, die Bereitschaft zum Ausleben unbegründeter Aggressionen zu verstehen, um eine Möglichkeit erdenken zu können, die Gewalt und Diskriminierung unnötig macht. Und wir landen naturgemäß bei Liebe, Bildung, Gewaltspiralen. Liebe, die wir aufbringen müssen, um Idioten ein Mindestmaß an Offenheit abringen und ein zartes Wissenspflänzchen im Hohlraum ihres Kopfes einsetzen zu können … tiefe Hirnstimulation sozusagen – eine komplizierte Operation, die wir dringend einüben sollten, um sie zukünftig routiniert an einer großen Zahl an Menschen durchführen zu können.

Free your mind … and your ass will follow.

Danke, Herr Kunze, für die guten Gedanken, vorgetragen mit fester Stimme. Beim nächsten Mal trauen wir uns, Dich beim Mitternachtssnack zu stören, um uns mit Dir auszutauschen.

Free your mind … | En Vogue
… and the rest will follow on the Spotify-Playlist