What else is there? …
Zuckerwatte zieht an mir vorbei. Der fliegende Blechhaufen neigt sich betont elegant seitlich Richtung Meer.
Ich fliege nicht gerne. Wenn ich aber erstmal im Blechhaufen sitze, wenn die Sicherheitsanweisungen erteilt wurden, wenn die Beschleunigung so hoch war, dass der riesige Vogel tatsächlich abheben konnte, wenn spürbar das Fahrgestell nicht mehr den Boden berührt, wenn es keine Alternative gibt als über die Wolken hinaus anzusteigen, wenn die Welt nur noch aus dem Blechhaufen mit einer begrenzten Menge Menschen besteht und klar ist, dass dich niemand erreichen kann, niemand etwas von dir will außer der Stewardess (Wein, Wasser, Cola, Tomatensaft?), dann, und nur und genau dann liebe ich es zu fliegen. Dann könnte der Flug auch länger dauern. Einige Stunden. Viele Stunden. Oder wenigstens so lange, bis meine Krankheit entschieden hat, dass es jetzt mal wieder Zeit wäre, sich zu bewegen.
It’s about you and the sun | A morning run | The story of my maker | What I have and what I ache for
Wir sind ausgezogen, nichts zu tun. Zehn Tage lang machen wir nichts als in der Sonne zu liegen, leichte Cocktails zu schlürfen, zu essen. Wir verdrängen, dass wir uns auf einer europäischen Insel befinden, die durchaus Sehenswürdigkeiten zu bieten hat und nehmen uns stattdessen vor, auf dem Rückflug den Wikipedia-Eintrag zur Insel auswendig zu lernen – nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass einer unserer Freunde wissen will, welche kulturellen Highlights wir konsumiert haben. Außerdem verdrängen wir die akustische Dauerbelästigung, der wir am Pool ausgesetzt sind (Einfach beim Streaming-Dienst »Dinner«, »Jazz« und »Covers« eingeben und auf Play drücken. Ihr werdet sofort verstehen, was ich meine. Ohrenbluten garantiert). Das einzige, in das wir in diesen Tagen unser Herzblut stecken, mein Liebster und ich, ist das Abendoutfit, in dem wir das Dinner begehen. Wir werden zum »most stylish couple of the hotel« gekürt.
I’ve got a golden ear | I cut and I spear | But what else is there?
Nur eine Woche liegt zwischen den Tagen der Erholung und der Reise zu einem Designfestival in Wien, auf das ich mich seit Monaten freue – auf die inspirierenden Vorträge, auf das Augenfutter, auf den Host, den ich sehr schätze und gerne mal anhauen würde, ob er mit mir ein Projekt machen möchte. Es ist eine Woche des Horrors geprägt von tagelanger Migräne, massiver Unbeweglichkeit, tiefer Depression. Mit einem Schädel, der so dick ist, dass ich kaum durch die Türen komme, schleppe ich mich wieder in den nächsten flugbereiten Blechhaufen und stelle mich innerlich der Angst, meinen beiden Begleitern zur Last zu fallen.
It was me on that road | But you couldn’t see me | Too many lights out, but nowhere near here
Endlich vor Ort tue ich das einzige, was ich in diesem Fall tun kann: Ich füttere mich selbst mit Schmerzmitteln und Extraportionen Dopamin und mische mich mit meiner Freundin unter die bis maximal 35-jährigen. Die Vorträge der Speaker sind wie erwartet inspirierend, ihre gezeigten Arbeiten brillant, der Host gewohnt charmant. Währenddessen macht mein Körper was er will, vielmehr macht er, was meine Krankheit will – während ich mich vor lachen über einen amüsanten Talk ausschütte, versucht mein Hirn, mich sitzenderweise in Ohnmacht zu befördern. Ich bin überrascht, dass das zeitgleich möglich ist und sammle mich so gut es geht. »Nicht so viel nachdenken, einfach machen«, lautet das Credo der meisten Speaker. Und ich frage mich ununterbrochen, wie das gehen soll, wenn der Geist vor Kreativität explodiert, aber die rechte Körperhälfte schmerzvoll ihren Dienst verweigert.
Road’s end getting nearer | We cover distance, but not together | I am the storm and I am the wonder | And the flashlights, nightmares | And sudden explosions
In der vorletzten Pause kündigt der Host eine kleine Signieraktion an – sein neues Buch liegt seit just diesem Tag druckfrisch in den einschlägigen Sortimenten – und am Buchstand des Festivals. »Heute ist besser« heißt das Prachtstück. Natürlich möchte ich das Buch kaufen. Natürlich möchte ich eine Widmung oder wenigstens eine Unterschrift. Und natürlich möchte ich mit ihm ins Gespräch kommen.
I don’t know what more to ask for | I was given just one wish
Obwohl ich eine unbelehrbare Optimistin bin, komme ich nicht umhin zu denken, dass nicht ALLES heute besser ist. Ich möchte ihm sehr gerne mitteilen, dass die Gewissheit, dass ich heute weniger dopaminerzeugende Nervenzellen zur Verfügung habe als gestern, mich zu der Überzeugung bringt, dass gestern besser gewesen sein kann. Doch bis ich bezahlt habe, ist schon die Unterschrift auf dem Buch, und nach seinem höflichen »Thank you« werde ich bereits aus der kleinen Schlange gespült, damit eines der kreativen Kinder nach mir drankommen kann mit dem Bezahlvorgang. »Ein gemeinsames Projekt über Dopamin wäre ein Anfang«, denke ich für mich und stolpere vom Stand zurück in die Menge.
There’s no more that I can go to | And you’ve got secrets, too
Neu auf der Playlist:
What else is there? | Röyksopp