My girls

Ich schließe die Augen und beiße genüsslich auf einen zarten, buttrigen Blätterteig, hindurch bis zu einem schokoladigen Kern von perfekter Festigkeit und Süße. Meine Gedanken tragen mich in ein kleines Bistro in Paris, wo die Besitzerin selbst früh am Morgen das delikate Gebäck in den Ofen geschoben hat. Ich dränge die romantische Traumreise zur Seite und erinnere mich an die Realität: Ich befinde mich auf den Malediven in den Flitterwochen und kann nahezu jedes Frühstück der Welt in Perfektion erhalten. Der Boden der Tatsachen könnte härter sein, und doch frage ich mich besorgt, wie ich in Zukunft ohne dieses köstliche Frühstück überleben soll, denn meine, unsere Zeit hier ist endlich. Ich seufze, öffne die Lider und sehe in ein bebrilltes Augenpaar, das nicht meinem Mann gehört, sondern der Frau am Tisch schräg gegenüber. Während ich gerade eine maximal sinnliche Erfahrung mit einem Pain au chocolat gemacht habe, sieht sie mich an als sei ich von Sinnen.

There isn’t much that I feel I need
A solid soul and the blood I bleed

Sie muss in einem ähnlichen Alter sein wie ich, doch sie ist nicht wegen ihrer Flitterwochen hier, sie verbringt ihren Familienurlaub auf den Malediven. Ihr Mann sitzt ihr gegenüber, Sohn und Tochter im jungen Erwachsenenalter jeweils geschlechterkonträr neben ihrem jeweiligen Elternteil. Alle vier folgen dem selben, mir bisher nicht geläufigen Dresscode, der schlammfarbene Shirts und kurze Hosen sowie weiße Füßlinge in Plastikschlappen vorschreibt. Ob der Durchschnittsblick, der sagen will, dass das alles hier nichts besonderes ist, dazu gehört, vermag ich nicht zu beurteilen. Wie gesagt: Der Dresscode ist mir nicht geläufig. Ich frage mich, wo das Elternpaar die Flitterwochen verbracht hat, und ob sie damals schon ahnten, dass sie eines Tages die Ferien mit ihren Kindern gelangweilt auf einer Insel im Indischen Ozean zubringen werden.

With a little girl, and by my spouse
I only want a proper house

Eigentlich mag ich keine Kinder, denke ich. Am wenigsten die kleinen kreischenden, die am Nachbartisch darauf bestehen, die Nachspeise vor der Hauptmahlzeit zu essen, um am Ende beide Teller voller erlesener Speisen angenagt stehen zu lassen. Eigentlich mag ich keine Kinder. Ich würfle und jongliere diesen Satz in meinem Kopf umher und erweitere ihn: Ich mag keine Kinder außer meinem eigenen Sohn, der immer ein Kind bleiben wird. Mindestens meines. Dann muss ich über meine eigene beschränkte Denkweise grinsen. Denn vor wenigen Wochen habe ich noch Kinder hinzugeschenkt bekommen: Drei fabelhafte erwachsene Frauen sind Teil meiner Patchwork-Familie geworden. Kluge, selbstständige und emanzipierte Frauen, die bei aller Unterschiedlichkeit gleichermaßen ausgestattet sind mit Durchsetzungsvermögen, einer angemessen großen Portion Pragmatismus und einer ausgeprägten Hilfsbereitschaft und Zugewandtheit. Alle drei haben das große Herz am rechten Fleck. Alle drei freuen sich über die neue Frau im Leben ihres Vaters (Das wär dann ich). Alle drei haben einen sicheren Umgang mit deren Krankheit (Das wäre dann Octopussy).

I don’t mean to seem like I care about material things
Like a social status

Ich mag keine Kinder außer die Kinder meiner Patchworkfamilie. Jetzt wird es sehr kompliziert, denke ich beim Abendessen in dem feinen Inselrestaurant, das unter anderem verschiedenste Dumplings zum Dahinschmelzen serviert – aromatische Mischungen aus Gemüse oder Meeresfrüchten, umhüllt mit zartem Reispapier. Am Nebentisch abermals eine Familie – die beiden Söhne müde vor jeweils einem Laptop, in dem halblustige bunte animierte Figuren bestrebt sind, die hereinstarrenden kleinen Menschen wach und bei Laune zu halten. Die Zwerglein tun mir leid. Strandurlaub in Italien mit Pizzeria am Abend wäre bestimmt schöner für sie. Ich mag Kinder. Und besonders die aus meiner Familie.

I just want four walls and adobe slabs for my girls

My girls | Animal Collective
Collected in der Spotify-Playlist