Remember …

Vor einigen Tagen bewies das soziale Netzwerk aufs Neue seinen Hang zur Nostalgie und meinte, ich würde gerne an einen Moment vor exakt zehn Jahren zurückdenken. Zur Erinnerung wurde mir ein Foto präsentiert, das ich damals selbst gepostet hatte: meine Füße über Kreuz abgelegt auf dem Balkongeländer der Wohnung im jetzigen Hipsterviertel der Stadt (sozusagen Stuttgarts Prenzlauer Berg), die Zehennägel frisch lackiert.

Wie banal, dachte ich, wer will sich an solch einen Moment erinnern? … Und dann kam ich doch ins Grübeln … vor zehn Jahren … der weltbeste Sohn war acht, ich war im Jahr eines runden Geburtstags, ich war im Begriff mich ein letztes Mal in den falschen Mann zu verlieben, und ich war augenscheinlich gesund …

One thing stays on my mind as I look back on the time
I guess it just couldn’t last I feel its fading fast

Beim weiteren Betrachten des Bildes fragte ich mich, woran wir in zehn Jahren denken würden, wenn wir uns an das Jahr 2020 erinnern.

Do you remember?
Do you surrender?
Do you remember how it feels?

Mir fiel ein, wie ich 1986 im Keller meiner Eltern auf Konserven und Kartoffeln starrte und überlegte, was davon jetzt alles verseucht sei … wie wir 1989 im Geschichtsunterricht exakt 15 Minuten darüber sprachen, was da gerade an der innerdeutschen Grenze vor sich geht, ehe unsere Lehrerin wieder ihre handbeschriebenen und aufgrund des Alters völlig vergilbten Blätter zur Hand nahm, um frontal über den zweiten Weltkrieg zu referieren … wie ich 2001 hochschwanger und voller Angst die Geschehnisse in den USA im Fernsehen verfolgte … einzelne Momente, die gesellschaftliche Umbrüche bezeugen.

If it all comes back on me, I will run and hide
Sometimes all you’ve got left is your empty pride

Wie wird das kollektive Gedächtnis abspeichern, was aktuell in diesen zwölf Monaten passiert? Wird das Jahr 2020 das Jahr gewesen sein, in dem die Alufolienhersteller mehr Umsatz machten als die überdurchschnittlich florierende Industrie für Hygieneartikel (Desinfektionsmittel, Toilettenpapier …), weil mehr Verschwörungstheorien kursierten als Coronaviren? Oder das Jahr, in dem wir den eigentlichen Wert von Gemeinschaft begriffen, weil wir uns mehr nach einem Glas Wein mit unseren (faden) Freunden sehnten als nach allen Siris und Alexas dieser Welt? Wird dieses Jahr wirklich der Beginn eines neuen Zeitalters gewesen sein? Eines Zeitalters voller Freiheit, Toleranz, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und vor allem Liebe? Falls ja: Wie werden wir die Idioten los die Zweifler bekehren können?

Nothing, nothing will ever be the same
Some of the best things fade, some of the worst remain

Und welcher Moment wird in zehn Jahren meine persönliche Schlüsselerinnerung sein? Vielleicht ein Moment auf dem Balkon, die Beine überkreuzt auf dem Geländer abgelegt … »Vor zehn Jahren …«, werde ich dann denken, »… der weltbeste Sohn war achtzehn, ich war im Jahr eines runden Geburtstags, ich war schon eine ganze Weile verliebt in den weltbesten Mann, und ich war erwiesenermaßen nicht ganz gesund …«

I can’t turn back the tide
Or show you something inside
Or help you out when you fall
If I can help you at all

Ich geh mal Zehennägel lackieren.

Remember | The Greg Kihn Band
Als Erinnerungsstück gesichert auf der Spotify-Playlist.