Woman …
»Die ist ja von Dolce & Gabbana!«
Ich würde mal sagen, ihr geht es besser. Einfach so, über Nacht, fährt sie durch die heiligen Hallen des Aphorismen-Dschungels, mit einem Aktiv-Rollstuhl, der ihr vor wenigen Tagen auf den Leib geschraubt wurde. Maßgeschneidert, wie sich das gehört bei den feinen Leuten. Den linken Fuß an der Tritt-Platte festgeschnallt, stemmt sich der rechte in rhythmischen Bewegungen vom Boden weg und hilft der ganzen Frau dabei, Fahrt aufzunehmen. Holprig vielleicht, und eventuell muss auch mal eine Pflegerin einen anderen bemannten Rollstuhl oder ein Besucher seine Tasche zügig zur Seite schieben, um eine Kollision zu vermeiden. Wenn schon. Lächelnd schaue ich ihr zu. Nach fünf Monaten des Durchhaltens, des Durchdrückens und des Durchdrehens gibt es für mich fünf Minuten des Durchatmens.
Woman
You know you’re a woman
You got to be a woman
I got the feeling of love
Wie ich sie so sehe, empfinde ich Liebe. Und Dankbarkeit.
Denn sie hat sich, wann immer ihr das möglich war, im Kugelhagel vor mich geworfen.
Mich beschützt, wie eine Tigermama ihre Babies.
When you’re, you’re talking to me
You see right through me
I got the feeling of love
Achso, das ist sie ja auch: Meine Mutter. Ich war kaum krankgeschrieben, genau genommen vier Tage, als sie mit einer massiven Hirnblutung umkippte. Und das war der ultimative Platzverweis für Octopussy, aber auch für die Arbeit, für Hängenlassen und für Energie verschwenden. Auf einmal war klar, was wirklich wichtig ist. Und auf einmal war auch wieder die Kraft da. Nicht immer und für alles, aber eben genau für die wichtigen Dinge im Leben: Fürsorge, Empathie, extreme Wachsamkeit gepaart mit einer Müdigkeit, die inzwischen ein solches Ausmaß angenommen hat, dass wir neue Namen dafür erfinden müssen: Für ihre Müdigkeit genauso wie für meine.
She’s a woman
You know what I mean
Dolce & Gabbana besiegeln also den Augenblick des Awakenings. Sie hat meine Sonnenbrille auf der Nase, ein Modell mit weißen Bügeln, und lehnt lässig und schwerpunktmäßig links in ihrem sportlichen Gefährt. Sportlich natürlich nur im Vergleich zum vorherigen Modell mit Kopfstütze … Einen Pflegestuhl nebst zumeist schlaffen Körper über die Privatstation zu schieben hatte mehr mit Umzug als mit Fortbewegung zu tun. Ihre Haltung wirkt auch jetzt noch nur halb so gelassen, wenn man weiß, dass sie ihre komplette linke Körperhälfte nicht bewusst bewegen kann. Wenn man das aber nicht weiß und ihr im Aufzug begegnet, denkt man: Schauspielerin oder Mafiachefin. Und während ich sie so ansehe, denke ich: Wenn Sonnenbrillen und Modeschöpfer wieder zu Gesprächsthemen werden, ist wenigstens für diesen kleinen Moment die Welt in Ordnung.
You better listen
Listen to me, yeah
She’s gonna set you free
Oh, yeah
Was andere von ihr denken, ist ihr herzlich egal.
Und füllt all das mit Leben, was ich meinen erwachsenen Kindern mitzugeben versuche:
Macht Euch frei von Meinungen und Einschätzungen anderer,
seid dennoch offen und neugierig,
entwickelt Eure Haltung, glaubt an die Liebe.
You’re kinda looking at me
Like I’ve got to set you free
I can’t be nobody
Und wenn Euch morgens um vier eine Ärztin anruft,
um Euch zu sagen, dass Ihr eine Entscheidung über Leben oder Tod treffen müsst,
dann entscheidet Euch für die Liebe.