The Look …

Es ist offiziell:
Ich habe die Kontrolle über mein Leben verloren. Nein, ich spreche nicht davon, dass wir in unserer Küche auf einem knirschenden Teppich aus Röstzwiebeln lustwandeln (Mein Sohn und ich hatten beim Hot Dogs-essen ein logistisches Problem: mindestens zwei Hände zu wenig! An manchen Stellen des Terrazzos knirscht es glücklicherweise etwas weniger – da ist das Gurkenwasser ausgelaufen …). Ich spreche auch nicht davon, dass ich nach einem halben Jahr noch immer nicht gelernt habe, dass Pausen zur Arbeit gehören und ich stattdessen runterreiße, was geht, wenn es denn geht. Und ich spreche auch nicht vom Kontrollverlust durch diese Erkrankung und die vollumfängliche Machtübergabe an 10 mg Dope, jeden Morgen.

Nein, es ist VIEL, VIEL schlimmer.

Ich gehe in Jogginghose aus dem Haus. Womöglich ist das der Anfang vom Ende. Noch bis zur Diagnose hätte ich das nicht gewagt. Ich war immer der Meinung, dass wir uns ausreichend Zeit für unser Äußeres nehmen sollten, bevor wir uns selbst auf andere Individuen der gleichen Spezies loslassen. Aber warum? Ist es nicht völlig nebensächlich, ob jemand beim Geschäftsmeeting eingewachsene Zehennägel zu offenen Schuhe trägt? Oder ein anderer in der U-Bahn ein Maurerdekolleté in einer ausgeleierten, auf links gedrehten Unterbüchse präsentiert? Ist es nicht schrecklich oberflächlich von mir, das überhaupt zu bemerken? Doch.

Ich bin eben auch SEHR, SEHR oberflächlich.

Anders gesagt: Als eher visueller Mensch kann ich über die Oberfläche/das Äußere kaum hinwegsehen. Dabei stelle ich zwar nicht die äußeren über die inneren Werte, aber ich nehme wahr, wie mein Gegenüber sich präsentiert. Und vielleicht ist das für alle anderen Menschen gar nicht so viel anders. Ich präsentiere mich deswegen am liebsten in schwarz. Gut duftend. Und mit rotem Lippenstift. Ich finde es schön und angemessen, den Menschen, mit denen ich täglich in Kontakt stehe, auf diese Art zu signalisieren, dass mir eine Begegnung mit ihnen wichtig genug für einen sorgfältig gewählten, herzeigbaren Look ist.

[By the way: Steigt jemand mit starkem, eher unangenehmen Körpergeruch in die Bahn, gibt es mindestens abteilübergreifend einen Konsens der sich die Nase zuhaltenden Mitfahrer (»Stinkt!«). Lässt sich Geruchsbelästigung vielleicht nicht auf die anderen Sinne übertragen? Gibt es etwa keine Dinge, die wir einfach nicht sehen wollen? Sind wir besonders »sichtempfindlich«, wenn jemand unseren Sehnerv nervt?]

Die Sorgfalt, mit der wir unser Äußeres pflegen, hat also irgendwie etwas mit Respekt zu tun. Respekt gegenüber anderen, aber vor allem … tadaaa! … gegenüber uns selbst. Wenn wir uns für uns selbst keine Zeit und vor allem Hingabe nehmen können oder wollen, uns es vielleicht nicht gut geht, schlägt sich das zumeist im Äußeren nieder. So empfinde ich es zumindest. Und umgekehrt kann mir der passende Look eine Art Steigbügel oder Rettungsanker sein. Sich geduscht und angezogen im Home Office zum Arbeiten zu motivieren ist leichter, als sich mit der Restnacht in den Augen im Schlaf-Schlumpf an die Projektplanung zu machen. Und sich trotz langen Wachliegens am nächsten Morgen zum Kundentermin zu schleppen, ist irgendwie einfacher mit einem Lächeln auf rot gefärbten Lippen. Es ist ein Signal an mich selbst, auch bei einem Zwischentief nicht aufzugeben. Um es mit den Fantastischen Vier zu sagen:

Nichts haben und immer gut aussehen … YEAH YEAH YEAH!

Die Order an meinen Liebsten bei einem möglichen, hoffentlich niemals eintretenden Zerfall der Signora Rossi ist entsprechend: Immer für ausreichend Schwarz auf den Wimpern und ausreichend Rot auf den Lippen sorgen! Und der Gehstock muss aus Ebenholz mit Silbergriff sein.

Style is the second cousin to class.

Und was ist jetzt mit dem Anfang vom Ende?
Wenn ich mit Jogginghose aus dem Haus gehe, fühle ich mich immer ein bisschen unwohl, weil ich nicht nachlässig wirken möchte. Ich mache es trotzdem, weil ich krankheitsbedingt viele Körpertherapien aufsuche und jedes zusätzliche Sich-umziehen-müssen aufgrund meiner starken Verlangsamung besonders an schlechten Tagen sehr zeitraubend und ausgesprochen nervig ist. Die Kontrolle über mein Leben habe ich, lieber Karl, dennoch nicht verloren: Alle meine Jogginghosen sind schwarz … und ich trage dazu immer roten Lippenstift.

The Look | Metronomy
Die parkinsonparty-Playlist auf Spotify

… ja, mir ist bewusst, dass dieser Song absolut nichts, aber auch rein gar nichts mit dem Text dieses Posts zu tun hat. Ist aber ein toller Song und ein sehenswertes Video, und …, HEYYY, der Titel passt …!
Ich bin eben SEHR, SEHR oberflächlich.