Easy

»Frau Rossi, bitte kommen Sie zu mir zum Elterngespräch.«

Zweiter Schultag, erste Klasse. Die Kinder standen paarweise gereiht vor dem Schuleingang und warteten darauf, dass ihre Klassenlehrerin sie ins Gebäude geleitete. In der ersten Woche war man sehr darauf bedacht, dass die Neuzugänge nicht ausbüxten, falls ihre Erfahrungen beim Start nicht überzeugend genug waren.

Know it sounds funny but I just can’t stand the pain
Girl, I’m leaving you tomorrow

»Ihr Sohn ist entweder hochbegabt oder autistisch.« Sie hatte das Kind etwa drei Stunden ihres Lebens beobachten können – zusammen mit etwa 24 weiteren Jungen und Mädchen. »Wow.«, dachte ich, als ich diese präzise Diagnose zwischen außerordentlicher Begabung und tiefgreifender Entwicklungsstörung zu verdauen versuchte.

»… muss man beobachten …«, »… bedarf besonderer Aufmerksamkeit …«, blablabla, das Gespräch mit der Pädagogin war voller Versprechen, die Individualität des Kindes zu respektieren und zu fördern. Es folgte eine Odyssee von Experte zu Experte, und in dem weiten Spektrum von tendenziell bekloppt zu tendenziell hochbekloppt, das die Klassenlehrerin mit messerscharfem Verstand aufgemacht hatte, bestätigte sich der Verdacht auf hohe Intelligenz des Jungen. Die Förderung seiner Individualität fiel dennoch so zurückhaltend aus, dass wir uns an die schwierige, aber nicht unlösbare Aufgabe einer Umschulung in der dritten Klasse machten.

Seems to me girl you know I’ve done all I can
You see I begged, stole and I borrowed

Meine eigene Grundschulzeit war eher positiv bis unauffällig. Auch ich überstand während der vier Jahre eine Umschulung, in meinem Fall wegen Umzugs. Ich kam damit gut zurecht – die neuen Lehrerinnen waren mir wohl gesonnen, und die Lehrerin der alten Klasse ließ alle meine ehemaligen Mitschüler einen Brief an mich richten, der das aktuelle Sachkundeprojekt zum Thema hatte. Die dreißig handgeschriebenen Blätter über Bohnenaufzucht gespickt mit Rechtschreibfehlern verwahre ich heute noch irgendwo zwischen wenigen persönlichen Nachrichten.

»Ich kann Ihrem Sohn nichts mehr beibringen. Der weiß schon alles.« Mich begeisterte nicht nur die Verwendung des rohen Personalpronomens »Der« (war das überhaupt ein Personalpronomen?) durch die neue Klassenlehrerin. »Wow«, dachte ich, »mein Sohn weiß schon alles. Und was ist mit Atomforschung? Raketenwissenschaft? Systemtheorie?«

Der Wechsel von der einen Grundschule zur anderen war also nur so semi-erfolgreich. Die ganze Familie baute hoffnungsvoll auf die Experten des Gymnasiums.

»Ihr Sohn kann wegen fehlender Impulskontrolle leider nicht in die Hochbeklopptenklasse aufgenommen werden.« So much for experts. »Wow«, dachte ich, »Angepasstheit schlägt kreatives Denken.« Ich bin ein bisschen froh, dass ich dieses Mantra nicht in meine Arbeit einfließen ließ.

Dann hatte er einfach keine Lust mehr auf Schule. Seine musischen und künstlerischen Talente waren im schulischen Kontext nur marginal relevant. Die Angebote im schulischen Kontext wiederum konnten ihn zumeist nur marginal begeistern. Sie wurden in der Oberstufe begleitet von Gemeinheiten einer nicht mehr ganz frischen Pädagogin im Fach Deutsch. »Ihre Meinung interessiert uns nicht, Herr Rossi.« war nur einer ihrer harmlosesten Kommentare in Bezug auf meinen Sohn. Parallel ging er extrem tapfer mit dem Einzug eines Riesenkraken in unseren gemeinsamen Haushalt um.

Why in the world would anybody put chains on me? Yeah
I’ve paid my dues to make it

Wenn ich an meine Zeit auf dem Gymnasium denke, fällt mir ein: Die letzte Schülerin sein, die beim Sport in eine Mannschaft gewählt wird (Von wählen konnte da nicht mehr die Rede sein. Diejenige, die mich in ihr Team nehmen musste, verdrehte gerne mal die Augen). Hausaufgaben vor der ersten Schulstunde abschreiben (kniend auf dem Nadelfilz im Schulflur). Ein Deutsch-Abi mit vier Punkten ablegen (Vier Seiten, vier Punkte. Sich kurz zu fassen, wurde damals schon nicht honoriert). Nirgendwo richtig dazugehören (die It-Crowd kam gut ohne mich aus).

Everybody wants me to be what they want me to be
I’m not happy when I try to fake it, no

Erst nach dem Abschluss hatte ich das Gefühl, einen Weg zu beschreiten, der mich dahin führte, wo ich wirklich sein mochte.
Und sieben Jahre nach dem Abitur habe ich den begehrtesten jungen Mann der Klassenstufe geheiratet und mit ihm einen ausgesprochen großartigen, klugen, schönen und vor allem unangepassten Sohn bekommen. Wir begleiten ihn bis heute gemeinsam. Zusammen mit unseren neuen Partnern bilden wir eine Bilderbuch-Patchworkfamilie, für die ich extrem dankbar bin.

Wie ich schrieb auch mein tapferer Nachkömmling ein Deutsch-Abi mit vier Punkten. Die gelebte Demonstration eines gestörten Lehrer-Schüler-Verhältnisses.
Wie nachhaltig prägend schwierige Situationen im schulischen Kontext für Heranwachsende sind, scheint ausgerechnet der Lehrerschaft oft nicht klar zu sein.
Fast in allen Gesprächen sicherten seine pädagogischen Begleiter uns zu, wie sehr sie den Jungen schätzen und wieviel Potential er hat. Nur wenige von ihnen haben ihm wirklich etwas zugetraut. Er hat sein Selbstvertrauen trotzdem während der letzten dreizehn Jahre nie verloren. Und er hat sich nie in die Angepasstheit gefügt. Guter Junge.

I wanna be high, so high
I wanna be free to know the things I do are right
I wanna be free just me, oh baby

Wir, der junge Erwachsene und ich, sind beide erleichtert, dass es jetzt weitergehen kann. Herzlichen Glückwunsch zum Abitur, Schnuck. Die Zukunft wird rosig.

That’s why I’m easy
I’m easy like Sunday morning

Easy | Faith no more (Original von den Commodores)
Federleicht gelandet auf der Spotify-Playlist