Still my bleeding heart …

Irgendwann wurde die Schwelle zum nächsten Blogpost zu hoch. Erst ließ zu viel Arbeit zu wenig Zeit. Wie ein Derwisch flog ich hin und her zwischen beruflichen Terminen und allen möglichen Therapien. Morgens um halb acht auf dem Weg zur Reha die ersten geschäftlichen Telefonate, am Abend virtuelle Teammeetings – bis ich vor Erschöpfung vor dem Bildschirm einschlief.

A child to a boy
From a boy to a man
Pride growing stronger
Reaching his victories
He speaks no lies
He fights his cause
He judges not the scavengers
That persecute humanity

Dann kam Weihnachten. Ein ruhiges Weihnachten, wie von ganz oben verordnet, begleitet von der Hoffnung, mich von den letzten völlig irrsinnigen Wochen erholen zu können. Und natürlich wollte ich das neue Jahr gut vorbereitet beginnen. Nichts davon gelang. Ich schaffte noch einen Neujahrspost, und das war‘s. Denn dann kam die Verschlechterung. Ich konnte kaum die Finger dazu bewegen, der Tastatur verständliche Wörter, geschweige denn vernünftige Sätze zu entlocken. Besprechungen absolvierte ich merklich angestrengt, alle Kraft floss in das Meistern des Arbeitsalltags. Ein einziger Kampf gegen einen übermächtigen Kraken, dem ich demütig die Kontrolle überlassen musste, sobald außer meinen Familienmitgliedern niemand mehr in der Nähe war.

Fate does call
And the sickness falls
Lights of life dim down
Fear like an alien comes to view

Mit der Verschlechterung kam die Angst, lähmend und durchdringend, unaussprechlich und alles bestimmend. Ein Meer voller Befürchtungen, Fragen, Schreckensvisionen. Kein Strand in Sicht. Und zwischen all den Bemühungen den Krankheitsfreischwimmer zu erlangen, glaubte ich, niemand könne die selbe Angst fühlen. Und ich fand und finde immer noch: Niemand sollte sie je fühlen müssen.

How could this be
I had to scream
Why this innocent young boy

Must suffer so helplessly

Es ist eine erschütternde Erkenntnis, dass manchmal all das Wünschen nichts verändern kann. Es heilt keine Krankheiten, und es schützt auch nicht die, die wir lieben vor ähnlichen Einschlägen. Der Teufel scheißt auf den Haufen, stellte meine Schwiegermutter immer wieder nüchtern fest, und sie hatte sowas von recht – klein beizugeben hätte sie niemals in Erwägung gezogen.

But who am I
To challenge God
In the ways of the world
Remain divine mystery

Doch mit der Erhöhung meiner täglichen Drogendosis langsam wieder zu Kräften kommend, muss ich eingestehen, dass die Krankheit, dass Octopussy von Anfang an die Kontrolle über mich hatte. Er hat Mitspracherecht bei Ernährung, Tagesrhythmus, Alkoholkonsum und gesellschaftlichen Aktivitäten. Und damit er meine volle Aufmerksamkeit behält, ändert er ständig seine Meinung. Lange dachte ich, ich würde mich daran gewöhnen, krank zu sein. Jetzt weiß ich, dass das nicht geht. Und tatsächlich will ich mich auch nicht daran gewöhnen. Stattdessen tue ich lieber alles dafür, den Kraken in Schach zu halten. Mit Drogen, Therapien, Teilnahmen an Studien, Ruhepausen … und viel Gemüse.

His chin he held high
And the courage in his voice
Was like the burning of the sun

Auch die Angst bleibt, und das Hadern wird immer wieder zurückkehren. Aber ich werde es wissen und einen Umgang damit finden. Und dem Teufel, der offensichtlich denkt, er müsse nicht nur auf meinen, sondern auch auf den Haufen meiner Liebsten scheißen, werde ich gehörig den Arsch aufreißen. Mit Verlaub.

In the name of love
Still my bleeding heart
For the love of God
Still my bleeding heart

Still my bleeding heart | Steve Vai
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